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Leseprobe Doppelgott

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Doppelgott

 

BERGGASTHAUS «BOLLENWEES» AM FÄLENSEE (PROLOG)

Der Regen hat endlich aufgehört.

Roger ist froh, bei seinem sonntäglichen Morgenspaziergang von der trockenen Kleidung, die er bei jeder seiner Bergwanderungen im Rucksack mitführt, profitieren zu können. So kann er die durchnässten Kleider von gestern noch im Trockenraum belassen und direkt zu seiner kleinen Runde an der frischen Luft starten.

Roger genießt ab dem ersten Atemzug die durch den Regen gereinigte, aber nun trockene und frische Morgenluft. Doch feucht war nicht nur die Witterung der letzten beiden Tage, sondern auch der gestrige Abend im Berggasthaus »Bollenwees«. Der Dauerregen hatte die Gäste schon früh ins Berggasthaus getrieben und einige von ihnen zur spontanen Übernachtung gebracht. So füllte sich die Gaststube schon am späteren Nachmittag mit Kletterern und Bergwanderern und dem Geruch ihrer schweiß- und regengetränkten Kleidung, dem süßlichen Duft von Kräuter- und Zwetschgenlutz und dem würzigen Geschmack von Käserösti.

Und Roger muss sich einmal mehr eingestehen, dass er, wenn er früh mit dem Konsum des Alkohols beginnt, diesen nicht nur über eine längere Zeit verteilt trinkt, sondern auch die Gesamtmenge erhöht. Was heute Morgen das schmerzhafte, permanente Ziehen über seinem linken Auge bestätigt.

Auch deshalb ist der kurze Morgen- spaziergang hinauf zu der schlichten Kapelle und zur Privathütte der Sektion St. Gallen des Schweizerischen Alpenclubs SAC ein Genuss. Am »Ort der Stille und des Gebets«, wie die zu Ehren des Heiligen Bernhard von Aosta, dem Patron der Bergsteiger und Skifahrer, errichtete Kapelle bezeichnet wird, hält es Roger nicht lange aus. Ihm fehlt die innere Ruhe, um unter dem einfachen Satteldach in sich gehen und die Stille genießen zu können.

Deshalb treibt es Roger hoch auf die kleine Anhöhe mit der SAC-Hütte, von wo sich ihm ein uneingeschränkter Blick auf den Fälensee und das Berggasthaus bietet. Hier ist für ihn ein Kraftort, der ihm jedes Mal, wenn er diesen besucht, Energie gibt. Und die frische Luft hilft ihm heute, seine Ausschweifungen des gestrigen Abends zu verarbeiten und mit neuem Elan in den noch jungen Tag zu steigen.

Im Berggasthaus scheint es ruhig zu sein, die Fenster der Gästezimmer sind nur teilweise aufgeklappt, außerhalb des Hauses ist niemand zu sehen. Ob das Team um Anita Streule bereits den morgendlichen Betrieb aufgenommen hat, lässt sich von hier oben nicht erkennen. Zahlreiche Farbtupfer in den drei Doppelfenstern des Trocknungsraumes auf der Nordwestseite des Berggasthauses weisen nochmals auf die Auswirkungen des gestrigen Regens hin und lassen vermuten, dass die Möglichkeit, die Wanderung wieder in trockenen Kleidern fortsetzen zu können, rege genutzt wurde.

Roger ist erstaunt, dass dieses kleine, kaum sichtbare Detail, das wohl jeder andere Beobachter übersehen hätte, seine Aufmerksamkeit so stark bündelt.

Doch plötzlich wird ihm klar, warum. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft die Erkenntnis seinen noch leicht vernebelten Kopf, lässt seine Gedanken auf einen Schlag klar werden.
Es ist keine Logik, sondern vielmehr die Verknüpfung von Gefühl und Verstand, von Vorahnung und Erfahrung, von Wunsch und bereits Erfülltem, von Fiktion und Realität, die ihn zum Schluss kommen lässt, dass ab diesem Moment auch in der »Bollenwees« nichts mehr so sein wird, wie es bis anhin war. Dass in diesem Moment im Berggasthaus »Bollenwees« etwas Schreckliches geschehen ist oder entdeckt wurde. Und dass dieser Moment große und anhaltende Auswirkungen auf viele Menschen haben wird.

Als er bei seiner Rückkehr nach einem hastigen Abstieg in die weit aufgerissenen Augen von Anita blickt, die hinter dem Buffet steht und deren Blick ihn zu durchdringen scheint, weiß Roger, dass er richtig liegt.

 

                                                                                                                                                    facebook appenzeller