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Leseprobe Doppelbindung

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Doppelbindung

Fränzi (Prolog)
Es ist einer dieser typischen Sonntagmorgen.

Ein Sonntagmorgen nach einem belebten und arbeitsreichen Samstag mit vielen Gästen – Feriengästen, Wanderern und Einheimischen, die schnell auf einen Drink vorbeikamen. Und einigen Gästen, die auch die Nacht im Berggasthaus ›Plattenbödeli‹ verbringen. Überwiegend Gäste aus der näheren Umgebung, die Ferienzeit neigt sich langsam dem Ende zu, nicht nur in der Schweiz, sondern auch im benachbarten Deutschland und in Österreich.

Aber es sollte keiner dieser typischen Sonntagmorgen bleiben.

Franziska Fässler ist zufrieden, nicht nur mit dem gestrigen Tag, sondern mit der ganzen bisherigen Sommersaison. Das Team funktioniert gut, die Qualität der Küche ist hoch, die Mädchen im Service arbeiten aufmerksam, strahlen Gastlichkeit aus, erhalten viel Lob von den Gästen.

Fränzi, wie die Chefin von den Gästen und ihren Mitarbeitern gerufen wird, beginnt das Frühstücksbuffet einzurichten. Noch ist sie alleine in der Gaststube, ab sechs Uhr hält sie nichts mehr im Bett. Die beiden Mädchen, wie sie ihre Service- mitarbeiterinnen mütterlich nennt, hat sie auf halb sieben Uhr aufgeboten, das reicht. Denn gestern ist es ja etwas später geworden.

Zahlreiche Gäste haben es ausgenutzt, dass es hier nicht so genau genommen wird mit der Polizeistunde. Die Polizei bemüht sich nicht sehr oft hier hoch, dafür ist die steile Anfahrt zu risikoreich, das ›Plattenbödeli‹ zu abgelegen. In der Küche arbeitet Thushari, die singhalesische Hilfskraft, zuverlässig, sauber, hilfsbereit. Sprechen Mitarbeiter und Gäste von der »Tamilin in der Küche«, setzt sich Fränzi vehement für die Berichtigung ein. Denn Thushari ist Singhalesin, spricht Sinhala, nicht Tamil.

Doch diese Unterscheidung dürfte für Europäer ebenso schwierig sein, wie für eine Singhalesin, den Appenzell-Innerrhoder Dialekt vom Ausserrhoder zu unterscheiden. Thushari ist zusammen mit Karin als Allrounderin für den Hotelbereich, die Reinigung der Zimmer und die Wäsche zuständig. Dazu im Restaurant für die kalte Küche, das Rüsten und den Abwasch. Und für das Frühstücksbuffet – da wird Sepp Manser, der Koch, noch nicht gebraucht. Der kommt erst in die Küche, wenn es um die Vorbereitung des Mittagessens geht. Thushari schneidet Mostbröckli und Pantli auf, belegt die Platten mit Rohschinken, Fleischkäse, dekoriert sie liebevoll. Nun sind die Käseplatten dran.

»Fränzi Chefin«, ruft sie Franziska zu, »ich brauche noch Bergkäse, den haben wir gestern hier in Küche aufgebraucht.«

»Kein Problem, wir haben noch einige Laibe im Keller, ich hole gleich noch welchen«, hallt es aus der Gaststube zurück. In alter Tradition wird der Käse im Naturkeller unter dem Altbau gelagert und gepflegt – mindestens alle zwei Tage werden die Laibe von der Chefin höchstpersönlich mit einem groben Leinentuch trocken abgerieben und gewendet. Und ebenso traditionsgerecht bleibt diese Arbeit der Pächterin vorbehalten. Daran ändert sich auch nichts, dass der Keller nie abgeschlossen wird – das ist Teil der Vertrauenskultur, die im ›Plattenbödeli‹ herrscht.

Fränzi öffnet die Verbindungstür, welche von der Gaststube zum Aufgang zu den Nostalgiezimmern und den Matratzenlagern im Altbau, zu den Toiletten und zur Kellertür führt. Sie schaltet das Licht ein und steigt die Holztreppe hinunter.

In dem Moment, als auch Monika, die einheimische Serviertochter, den Gastraum betritt, zerreißt ein gellender Schrei aus dem Keller die morgendliche Stille.

Bruno
Bruno Fässler glaubt zu träumen. Noch gestern hatte er am Strand an der italienischen Adria gelegen, seine wohlverdienten Ferien, die feine mediterrane Küche, viel und guten Rotwein und das süße Nichtstun genossen. Und heute Morgen, nach einer über siebenstündigen Autofahrt zurück nach Appenzell – wobei Fahrt bei dem stockenden Verkehr und den zahlreichen Staus leicht übertrieben ist – heute Morgen, knapp nach halb sieben Uhr, läutet bereits wieder das Telefon.

Sonntagmorgen!

Die Nummer auf dem Display beruhigt ihn, es ist nicht seine Amtsstelle. Logisch, wenn auch nicht selbstverständlich – als kantonaler Beamter des Justiz-, Polizei und Militärdepartements, Amt Kantonspolizei, Abteilung Kriminalpolizei, musste er seine Ferien mit genauem Anfangs- und Enddatum eingeben. Und das Enddatum ist heute, Arbeitsbeginn ist offiziell damit erst morgen.

NEU: Rena Larf liest aus "Doppelbindung" in der CRIME TIME auf dem Hamburger Literaturradio! (MP3-Download)

 

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